Von Weimar lernen. Text von Edda Rydzy
(Translation into English will follow shortly. HF)
Rückblickend könnte man sagen: Bedanken
Sie sich bei Kohl. Letztlich ist
der frühere deutsche Bundeskanzler
schuld an von ihm selbst freilich völlig
unbeabsichtigten Entwicklungen. Als
nämlich Deutschland eine europäische
Kulturhauptstadt für 1999 nach Brüssel
melden durfte, fällte Kohl die Entscheidung
per Machtwort für Weimar. Dahinter
stand eine Summe von Kalkülen:
In den damaligen Landtagswahlen waren
Sympathieverluste der von Kohl geführten
CDU auszugleichen. Das Image
des Kanzlers litt unter dem anhaltenden
Ausbleiben der bei der „Wiedervereinigung“
versprochenen „blühenden Landschaften“
im Osten, deren Anschein nun
wenigstens punktuell hergestellt werden
sollte. Dazu bot Weimar eine Chance:
Mit dem für eine Kulturhauptstadt mobilisierbaren
Finanzvolumen ließ sich die
Kleinstadt (anders als eine Großstadt) in
kürzester Zeit zu einem Kleinod aufpolieren.
Zudem lockte die dabei mögliche
Berufung auf die deutschen Klassiker
Goethe, Schiller, Herder — sozusagen
als Schmiermittel im holprig Fortgang
der deutschen Einheit. Dass derartige
Hoffnungen nicht völlig illusionär
waren, zeigt wohl auch die Stärkung
des regierenden Ministerpräsidenten
Bernhard Vogel bei den thüringischen
Landtagswahlen im selben Jahr.
Im Übrigen nahm alles andere seinen
Gang. Es begann damit, dass man
den Kulturbeamten Bernd Kauffmann
zum Intendanten bestellte. Ihm traute
man Souveränität angesichts des zu erwartenden
Stresses zu, kaum aber eine
grundsätzliche Störfunktion. Letzteres
erwies sich allerdings als Fehlannahme.
Statt nämlich schlicht das verschlafene
Weimar sich weiter im Abglanz der
Klassiker geruhsam sonnen zu lassen,
sorgte Kauffmann für Bewegung, Unruhe
und Reibung. Indem er etwa die
kulturgeschichtsträchtige Stadt und
das nahe gelegene Konzentrationslager
Buchenwald aufeinander bezog, verwies
er auf die Doppelgesichtigkeit der deutschen
Geschichte.
Doch sprach „Weimar 1999“ auch
ganz aktuelle Themen an. Mit der
Nachbildung von Goethes berühmtem
Gartenhaus wurde das Problem der
Reproduzierbarkeit von Kunstwerken
berührt, darüber hinaus ging es aber
auch um die allgemeine gesellschaftliche
Möglichkeit des Kopierens. Die
Frage nach der einmaligen unverwechselbaren
Aura eines Kunstwerks drängte
sich dabei als Frage nach der Würde
des einmaligen unverwechselbaren
Menschen auf. So sinnfällig aber wollten
sich die meisten dem Zusammenhang
von Kunst, Forschung und Menschlichkeit
im Zeitalter des Klonens gar nicht
ausgesetzt sehen. Ein Aufschrei ging
um. Doch nicht zuletzt der internationale
(und auch touristische) Erfolg gab
Kauffmann dann Recht.
Aus Kohls Entscheidung für Weimar
1999 kann für die Kulturhauptstadt
2010 jedenfalls gelernt werden, dass es
auch diesmal um Prestige, Politik und
Geld geht — aber unter anderen Voraussetzungen.
Selbst wenn der jetzige
Kanzler Schröder in dieser oder jener
Frage willens und in der Lage wäre,
kurzerhand Machtworte zu sprechen:
Hinsichtlich der Kulturhauptstadt 2010
ist das ausgeschlossen. Denn der damalige
autokratische Fingerzeig auf Weimar
hat längst das kulturelle Selbstbewusstsein
vieler deutscher Mittelstädte auf
den Plan gerufen.
Wären nämlich bei der Entscheidung
für eine Kulturhauptstadt nur Metropolen
wie Hamburg und München oder
das in Glanz und Traum singuläre
Dresden in Rennen gewesen, dann stellte
sich anderen, deutlich kleineren Großstädten
gar nicht erst die Frage: „Was
hatte Weimar, was wir nicht haben?“ So
aber können die Kassel, Görlitz, Bamberg,
Augsburg, Osnabrück, Münster,
Potsdam, Lübeck, Regensburg, Halle,
Dessau-Wittenberg, Braunschweig und
Karlsruhe zu Recht von sich behaupten:
Europäisch und kulturbeladen wie Weimar
sind wir allemal. Nun wäre ohne
die Vielzahl Bewerberin zwar vermutlich
alles einfacher gewesen, aber auch
manche Entwicklung, die Anlass zu
Hoffnungen bietet, wäre unterblieben.
RÜCKGEWINNUNG DES POLITISCHEN
Die Entscheidung für die Europäische
Kulturhauptstadt Weimar 1999 war eine
Weichenstellung, die einen langfristigen
kulturellen Verständigungsprozess ausgelöst
hat, der mittlerweile allein in den
jetzigen Bewerberstädten mehr als fünf
Millionen Bürgerinnen und Bürger betrifft.
In diesem Verständigungsprozess
wird erörtert, was die Städte in ihrer
Geschichte und Gegenwart kulturell
charakterisiert, worin ihre europäische
Qualität besteht und wie das Leben in
den Städten künftig bewusst als Leben
in Europa gestaltet werden kann.
Grundfragen städtischer Gemeinschaft
und damit auch der Gesellschaft überhaupt
werden öffentlich diskutiert. So
entsteht lebendige Öffentlichkeit an
Stelle bloßer Zuschauerdemokratie.
Kulturelles Engagement erweist sich
somit nicht nur als Movens städtischer
Entwicklung, sondern trägt zu einer
Rückgewinnung des Politischen bei.
Aber auch außerhalb der sich als künftige
Kulturhauptstadt bewerbenden
Städte werden die Inhalte der neuen
Diskussionen durchaus wahrgenommen.
Inzwischen ist eine bundesweite
Öffentlichkeit für dieses kulturelle Engagement
entstanden.
Das stellt übrigens auch das föderale
politische System Deutschlands vor eine
neue Herausforderung. So teuer wie
heuer ist guter Rat im Bundesrat, in
dem die Länderregierungen vertreten
sind, in einer kulturpolitischen Frage
noch selten gewesen. Der Bundesrat
muss entscheiden, welche Bewerberin
nach Brüssel gemeldet werden soll, wo
dann die letzte Entscheidung getroffen
wird. Die Entscheidung wird von einem
kulturell ambitionierter Querschnitt der
Bevölkerung beobachtet, der sich aus
allen politischen Lagern, Regionen und
Berufsgruppen rekrutiert. Erwägungen,
wie sie vor Jahren Kohl geleitet haben,
helfen den Ländervertretern nicht.
Mit einem Beschluss, der sich lediglich
den parteipolitischen Mehrheiten im
Bundesrat verdankte, würde dieser sich
selbst disqualifizieren. Er hat die methodische
Klarsicht bewiesen, auf dem
Weg über die Kultusministerkonferenz
eine Jury zu berufen.
KULTURPOLITIK ALS KERNGESCHÄFT
Da die Bewerberstädte miteinander konkurrieren,
sind sie zu Anstrengungen
herausgefordert, die die üblichen Brüsseler
Kriterien für die Kulturhauptstädte
noch überbieten Die deutsche Jury hat
bei ihren Wertungen Entwicklungen
zu reflektieren, denen die politischen
Gremien weder in Deutschland noch
in Europa bisher ausreichend Rechnung
tragen konnten.
Das Treffen in Halle steht exemplarisch
für den erreichten Qualitätssprung.
Es genügt für eine Bewerberin längst
nicht mehr, Architektur, Infrastruktur,
Kultureinrichtungen und Kunstschätze
aufzumöbeln und ins rechte Licht zu
setzen. Im Diskussionsprozess der ungarischen
und deutschen Bewerberstädte
zeichnet sich ab: Die Kulturhauptstädte
Europas werden künftig daran zu messen
sein, ob sie vor Ort in der Lage sind,
echte Gestaltungskraft zur Lösung gesellschaftlicher
Probleme und Konflikte
zu entfalten und die kulturellen und
kulturpolitischen Instrumentarien dazu
bereitzustellen.
In schöner Gelassenheit nimmt Halle
sein größtes Problem – das schrumpfende
Neustadt – zum Bestandteil des eigenen
Bewerbungskonzepts. Die Experten
des internationalen Kolloquiums im
Januar zeigten sich jedenfalls zu Recht
beeindruckt von der sozialen und fachlichen
Intelligenz der Stadtentwicklung.
Kultur und Kulturpolitik erweisen
sich hier als erneuerbare Ressource, auf
die die Gesellschaft zur Lösung ihrer
Probleme zurückgreifen kann. Dass die
Oberbürgermeisterin von Halle Kulturpolitik
unabhängig vom Erringen
des Titels „Kulturhauptstadt“ als ihr
Kerngeschäft versteht, ermutigt weit
über Halle hinaus. Kultur wird nicht
als weicher Standortfaktor behandelt,
sondern als flexible Kraft. Das verdient,
ein gemeinsamer kultureller Standard
der Europäischen Union zu werden.
Edda Rydzy, Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung
der Europaeischen Kulturstiftung, die zur Zeit
ein langfristiges Projekt mit deutschen und ungarischen
Kulturstädten durchfuehrt.
XING 02/05
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